„No english.“ Saubrachikos

Ich glaube, es war in den 90er Jahren, als man in Interlaken, dem Ort meiner hellen und freien Kindheit, befürchtete, dass man den Anschluss an den modernen Tourismus verloren hatte. Niemand, außer amerkanischen Backpackern, wollte noch in diesem weltbekannten Ort urlauben.
Nicht einmal, dass Goethe hier war, Lord Byron, Brahms, Mendelsohn Bartholdy, Conan Doyle (der einen seiner Sherlock Romane in der Ecke spielen ließ), ja, und nicht mal, dass der 2. James Bond-Film George Lazenby über die Steilwand über Lauterbrunnen skibrettern ließ, zählte mehr.
Was war bloß los?

In den sechzigern waren die Briten, die Erfinder des Alpinusmus, die Gäste. Vorwiegend ihre süßen Töchter, die sie in die vielen Internate schickten, und die uns Jungs träumen machten, und die uns die Mode und die neuste Musik aus London mitbrachten.

Kein Zufall, dass hier eine der besten Bands des Landes entstand: Rumpelstilz mit ihrem Frontmann Polo „National“ Hofer.

Dann ging den Briten das Pfund aus, und sie kamen nicht mehr. Dafür kamen in den 70ern knickrige Holländer mit ihren Wohnwagen voll mitgebrachten Konserven, Mecker-Germanen, die alles zu teuer fanden, und darauf folgten diese wandelnden Fotoapparate-Cluster: Die Japaner.

Und natürlich die Amerikaner. (Sie blieben dem Ort immer gewogen.)
Und die waren es auch die in den 90ern noch kamen, aber nur vereinzelte Backpackers, die im weltberühmten „Balmers Hostel“ abstiegen. For drinking, shouting and fuckin’. Und Abenteuer: Helikopter-Bungee, Canyoning, Deltasegeln, Wingsuiten.
Einige fanden beim Canyoning im Saxtebach den Tod, weil man nicht auf die einheimischen Warner gehört hatte. Ein blitzschnell aufziehendes Gewitter spülte die Leute in die Lütschine, und die tranportierte die Leichen in den Brienzersee. Großer Skandal.

Schon fragte man sich, ob das nun alles sei? Was war zu tun?

Ich habe keine Kenntnis über Ideen und Projekte, aber mit einem Mal waren die Brahmanen da, die den indischen Filmteams nachspürten, die im Berner Oberland eine Landschaft für ihre Bollywood-Filme vorfanden , eine Landschaft, die sie an den verbotenen und gefährlich umkämpften Kaschmir erinnerte.
Man kann nicht sagen, dass die Hoteliers diese Touristen gerne beherbergen. Cultur-Clash. (Ich werde jetzt nicht auf kolportierte unappetitliche Details eingehen.)

Und plötzlich: Saudis. Burkinis. Hijabs usw.

Chinesen. Koreaner. In asiatischen Maßen. Es war wie der indischstämmige Raj in der Serie „The big bang theory“ über seine alte Heimat klagte: „ Es sind soviele Menschen dort. Und sie sind überall.“

Dann die Pandemie. Und niemand durfte mehr kommen. Aber es waren nun die Landsleute, die die Gelegenheit nutzten, unter ihresgleichen auch mal aufs Jungfraujoch zu tuckern, oder durch Mürren zu tappen, und in Grindelwald einen Eigertee oder sowas kredenzt zu bekommen.

Pandemie vorbei. Und eine Flut an Saubrachikos (Saudis, Brahmanen, Chinesen, Koreaner) brach in die Region ein. Vor allem in Interlaken, denn dies ist das verkehrtechnische Herz der Region, die sich „Jungfrauregion“ nennt. Abertausende, jeden Tag.

Nun wurde Interlaken zum Schweizer Hotspot des „Overtourism“. Wobei eigentlich „Overtourism» nur der Vorname ist.

Ich komme gerade von dort, da ich wieder ein paar Tage in Wengen verbringen durfte. Der Nachname von „Overtourism“ ist „Destruktiver Irrsinn“.

Und so habe ich eine neue Seite an mir kennengelernt: die unfreundliche, abweisende, ignorierende und zu keiner Hilfsbereitschaft neigende.

In den Zügen stehe ich und blicke aus dem Fenster, um die Saubrachikos nicht sehen zu müssen. Sie existieren eigentlich gar nicht. Wenn sich die Türen der Bahn öffnen, und sie bereits in Trauben davor stehen, steige ich aus und gehe einfach durch sie hindurch, als wären sie nicht vorhanden.

Spricht mich jemand an (was leider immer wieder vorkommt, weil ich ganz offensichtlich einen freundlichen und kenntnisreichen Eindruck mache – was auch tatsächlich der Fall ist – so schnalze ich nur: „No english.“ Und damit ist die Sache erledigt.

Heute saß ich auf einer Bank beim Bahnhof in I’laken, aß ein Sandwich und wartete auf den Zug. Da kam ein älterer Brahmane daher und fragte: „Are you lonley?“
„No english.“
Er trollte sich sogleich, wobei er noch eine verächtliche Geste machte.
Ein Rassist und Chauvinist vor seinen Göttern.

Aber mir geht es gut dabei. „No english“.

Im Zug von Zürich nach St. Gallen sprach mich ein dunkelhäutiger Schnorrer an, und fragte, ob ich italienisch spreche. Ich sprach, und gab ihm mein Kleingeld, nachdem er mir seine Lügen erzählt hatte.

Ich bin noch als Misanthrop einfach viel zu menschenfreundlich.

Nicht wahr, Saubrachikos?