Alles Engel

Vor zwei Tagen las ich die Nachrufe von Journalisten auf einen ihrer eben verstorbenen Kollegen. Es waren viele, die ihre Erinnerungen an den Verstorbenen in rührende Texte fließen ließen. Was allen gemein war, war, dass der Mann ein makellos guter Mensch war, ein Weiser und Humanist, einer der nie in einen Streit verwickelt war, ein herkulischer Zuhörer, ein freundlicher und aufopfernder Mentor für Anfängerinnen, ein vorbildlicher Vater, kurz: ein engelgleiches Wesen, jeder Begierde abhold, jeder Schmähung eines anderen unfähig, es gab keinen Menschen auf der Welt, der ihn nicht zum Vorbild ernennen sollte.

Ich verstehe. Man trauert um einen jäh aus dem Leben gerissenen.
Aber so ergeht es auch anderen, die nicht so plötzlich dahinscheiden. Sie werden in den Nachrufen zu Engeln. Kein Falsch ist an ihnen, sie sind gerecht und so gut, dass man sich ob seiner selbst zu schämen beginnt.

Vor einigen Tagen hielt ich die Grabrede für meine Mutter, die mit fast 93 Jahren aus ihrem Schlaf nicht mehr erwacht ist. Ich erinnerte mich an sie, versuchte ihrer Biografie nachzuspüren, zu ergründen was sie ausmachte, was ihre Träume waren, ihre Verletzungen, ihr Glück, ihr Wollen. Und das alles in ein paar wenige Minuten zusammenzufassen.

Es schien mir, wie die Reaktionen darauf waren, nicht allzu schlecht gelungen zu sein.
Ich erwähnte aber auch ihre dunkleren Seiten. Es schien mir einfach nicht redlich, diese zu unterschlagen. Denn – das ist meine Erfahrung mit meiner Spezies – wir alle haben dunkle Seiten. Das ist ein Fact. Wir sind keine Engel.

Wenn jemand über mich sagen würde, dass ich ein Riesenarschloch sei, ist dies nicht falsch, aber es nicht annähernd eine vollständige und relevante Diagnose.
Und so wie wir keine Engel erster Ordnung sind, so sind wir auch keine reinen Mistkerle.

Ich finde, dies sollte man, um der Wahrheit willen, und um den reinen Kitsch zu verhindern, berücksichtigen.